Türkeis Ministerpräsident bezeichnet den Unterricht der kurdischen Sprache an Schulen als historischen Schritt für die Türkei : Bild: AFP
Am Montag hat an den Schulen der Türkei der Unterricht nach dem von der regierenden „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) eingeführten neuen Schulsystem begonnen. Seit die Reform im März durch das Parlament ging, wird sie im Lande heftig diskutiert. Ihr Kern ist die Verlängerung der Schulpflicht von acht auf zwölf Jahre. Jeweils vier Jahre sollen türkische Schüler an Grundschule, Mittelstufe und Gymnasium lernen, weshalb die neue Gesetzgebung auch als „4+4+4-Reform“ bekannt wurde.
Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.
Eine Verlängerung der Schulzeit wirkt auf den ersten Blick folgerichtig. Die Leistungen türkischer Schüler sind im internationalen Vergleich schlecht, bei der Pisa-Studie der OECD rangierte die Türkei auf den letzten Plätzen – was freilich nicht allein mit der kurzen Dauer einer durchschnittlichen einheimischen Schülerkarriere zu tun hat, sondern auch mit der mangelnden Ausbildung vieler Lehrer.
Wechsel auf religiös ausgerichtete Schulen möglich
Gegner der Regierungspartei sehen in einer Neuerung, die Schülern nach dem Abschluss der Grundschule die Möglichkeit bietet, in die religiös ausgerichteten Imam-Hatip-Schulen zu wechseln, den Beleg für den angeblichen Plan der AKP, die Türkei zu „islamisieren“, was immer das bei einem Staat mit offiziell 99 Prozent muslimischer und in den ländlichen Regionen auch meistenteils frommer Bevölkerung heißen mag. Für viele Skeptiker reichte der Hinweis darauf, dass auch Ministerpräsident Erdogan Absolvent einer Imam-Hatip-Schule ist, um sich in ihrem alten Verdacht bestätigt zu sehen, die AKP verfolge eine „geheime Agenda“. Dabei ist die Agenda der Partei keineswegs geheim. Sie strebt nach Macht und Kontrolle, was in der Politik nicht ungewöhnlich ist, auch wenn die Methoden der AKP immer rücksichtsloser werden.
Viele Eltern haben nichts gegen eine Stärkung der Imam-Hatip-Schulen, vor allem nicht in den südostanatolischen Hochburgen der AKP, wo die Partei bei der Parlamentswahl 2011 49,8 Prozent der Stimmen erhielt. Sie empören sich aber über die vorgesehene frühere Einschulung ihrer Kinder. Laut dem neuen Gesetz sollen Kinder bereits in einem Alter von 66 Monaten – also nicht einmal fünfeinhalb Jahren – zur Schule gehen. Viele Eltern wollen ihren Nachwuchs so früh noch nicht dem Staat ausliefern und ließen ihren Kindern in den vergangenen Wochen ärztliche Atteste ausstellen, um den Schulbeginn noch ein Jahr zu verzögern.
„Lebende Sprachen und Dialekte“
Eine anderer Teil der Reform könnte ebenso weitreichende Folgen haben wie die Aufwertung der religiösen Schulen: Von der fünften Klasse an, also der ersten Klasse der wieder eingeführten Mittelschule (Orta), werden zahlreiche neue Wahlfächer angeboten, zu denen auch das lange offiziell verbotene und verpönte Kurdisch gehört. Zwar gibt es auch künftig offiziell kein Schulfach „Kurdisch“, doch kann die Sprache unter dem Oberbegriff „lebende Sprachen und Dialekte“ ausgewählt und erlernt werden, auch an den Imam-Hatip-Schulen. Zu den „lebenden Sprachen“ zählen außer den beiden wichtigsten Dialekten beziehungsweise Sprachen der Kurden – Kurmanci und Zazaki – unter anderem Abchasisch, Georgisch, Griechisch, Albanisch und Bosnisch. Der Lehrplan für Kurmanci und Zazaki sieht vor, dass nach dem kurdischen Alphabet unterrichtet wird, also inklusive der bisher verbotenen Buchstaben X, Q und W.
Noch bis zum Ende dieser Woche haben die Eltern Zeit, den Schulen mitzuteilen, welche Sprache ihr Kind in der Schule zusätzlich zum Türkischen lernen soll. Sobald zehn Schüler einer Schule den Wunsch bekunden, Kurdisch zu lernen, soll ein Kurs - zunächst in diesem Jahr „Kurdisch 1“ - angeboten werden.
Lehrermangel
Zumindest in diesem Schuljahr wird die Möglichkeit, in der Schule Kurdisch zu lernen, jedoch in den meisten Orten theoretisch bleiben. Es mangelt noch an Lehrern, die eine Zusatzausbildung zum Unterrichten des Kurdischen abgeschlossen haben. Zwar wurde im Sommer an den Universitäten in Bingöl und Diyarbakir offiziell mit der Ausbildung von Kurdischlehrern begonnen – in der Provinz Mardin ist das schon länger der Fall -, aber die Absolventen dieser Kurse werden frühestens im Herbst kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen können.
Immerhin schafft der türkische Staat nun tatsächlich Voraussetzungen, die dazu führen können, dass es in einigen Jahren in allen Regionen der Türkei einen geregelten Kurdischunterricht für die Kinder der angeblich bis zu zwölf Millionen Kurden des Landes geben kann. Allein an der Provinzuniversität Mardin, an der Grenze zu Syrien und zum Irak, werden zwei Mal im Jahr 500 neue Lehrkräfte in das Ausbildungsprogramm aufgenommen. In Mardin werden schon im dritten Jahr Kurdischlehrer ausgebildet. Da die Ausbildung bisher in berufliche Ungewissheit führte, war das Interesse gering. Das hat sich durch die neuen Bestimmungen geändert. Die Universität Mardin teilte mit, dass sich auf 500 Plätze mehr als 2800 Personen beworben hätten, davon 230 für Zazaki, der Rest für Kurmanci. Zugelassen werden allerdings nur Türkischlehrer oder Kandidaten, die ein abgeschlossenes Studium der türkischen Sprache und Literatur aufweisen können.
Kritik von vielen Seiten
Die nationalistische Oppositionspartei MHP kritisierte den Kurdischunterricht sinngemäß als Kotau vor der kurdischen Terrororganisation PKK. Die Kurdenpartei BDP bemängelt die Neuerung ebenfalls - weil sie ihr nicht weit genug geht.
Die BDP, deren kurdischer Nationalismus dem türkischen nur deshalb nachsteht, weil er nicht über denselben Machtapparat verfügt, verlangt Kurdisch als Unterrichtssprache in allen Fächern. Die Forderungen der BDP laufen auf ein getrenntes Bildungssystem mit eigenen Schulen für Kurden hinaus. Was der nächste Schritt wäre, kann man sich ausmalen.
Author: Elizabeth Tucker
Last Updated: 1703198161
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